Autor: Tayfun Belgin

Gerhard Hoehme

"Den Gesetzen der Fläche bin ich immer nur widerwillig gefolgt. Weit mehr hat mich die Gesetzmäßigkeit der Farbe, ihr Strömen und Wachsen, ihre Materie und Struktur interessiert. Beim Umgang mit ihr, beim Eingehen auf ihre Möglichkeiten hemmten mich oft die Ränder des Rechtecks. Dies war ein Zwang zu weiser Beschränkung, bisweilen aber bedeutete es die Einengung meines Ausdrucksvermögens. Meine Sehnsucht war der weite Raum, der dritte, vierte, fünfte - nach oben, zur Seite, nach vorn, ja sogar nach hinten, aber ohne illusionistische Tiefe." Gerhard Hoehme schrieb diese, einem Manifest gleichkommenden Gedanken in einer Zeit (1957), als er sich schon Schritt für Schritt von seinen rein zweidimensionalen Arbeiten zu entfernen begann. Er wollte seine Werke dort plazieren, wo sie sich nach 1964 auch befinden - im Raum.

Rote Zeichen, 1951, Öl auf Leinwand, 74 x 101 cm, Sammlung Ströher, Darmstadt. Foto: Olaf Bergmann, Witten (© VG Bild-Kunst, Bonn 2011)


In Ökotop aus dem Jahr 1957 wurde ein "shaped-canvas"-Verfahren offensichtlich, das sich von späteren amerikanischen Bestrebungen deutlich unterschied. Hoehme spannte, so läßt er uns in jenem Jahr ebenfalls wissen, eines Tages seine Leinwand nicht mehr auf das Gerüst des Keilrahmens, sondern ging den umgekehrten Weg. Auf einem großen Stück Leinen malte er ein Farbgeschehen, das erst nach seiner Vollendung gerahmt wurde. Der Rahmen orientierte sich an dem Farbverlauf und war dementsprechend nicht rechteckig, sondern vieleckig. Erst am Ende des Malprozesses ergab sich also das Format der Bilder - das war die Maxime der Raumbilder Gerhard Hoehmes.

Der in Greppin bei Dessau geboren Hoehme war in seinen vorkünstlerischen (jungen) Jahren, von 1939 bis 1945, Jagdflieger im Zweiten Weltkrieg. Es gab Zeiten, so berichtete er in Interviews, da verbrachte er mehr Zeit in der Luft als auf der Erde. Die Begeisterung für die Fliegerei hat ihn nachhaltig auch in seiner Kunst beeinflußt. Die Tendenz, die Dinge von oben zu sehen, ist sicherlich vielen seiner Werke eingeschrieben - doch ist dies nur ein Aspekt seiner Arbeiten. Was ihn nicht mehr losließ, als er begann, sich künstlerisch zu äußern, war die Farbe und ihre Entwicklung im Raum, ihr Strömen und Wachsen, ihre Materie und Struktur. In seinen informellen Frühwerken ist im Medium des klassischen Bildformats ein durchaus lyrisch-abstrakter Umgang mit Farbe, die später an Materialität gewinnt, zu erkennen. Eine Serie schwarzer Bilder - "Schwarz ist die Summe aller Farbe", so Hoehme - stößt 1955/56 auf großes Unverständnis, da in jenen Jahren der Aufbau der Republik eine anders gestimmte Farbigkeit erwartete.

Dann endlich erfolgte der Durchbruch des experimentierenden, suchenden Künstlers. Die Farbe verließ den traditionellen Malgrund: Es entstanden Farbpfähle und Farbobjekte, die eine ganz neue Sichtweise und Entwicklung der Farbe vor Augen führten. Die mehrteiligen Farbobjekte bezogen nun den leeren Raum der Ausstellungswand bewußt mit ein. Es entstanden Wandinstallationen, bei denen nicht rein formale Elemente im Vordergrund standen wie in der Konkreten Kunst, sondern Farbausbreitungen. Der Humor gehörte - was die Bildtitel immer wieder offenbaren - zur Kunst Hoehmes: Raumbeule, Öffne, Mark der farblichen Lust, Schräger Faust oder B+3, zwischen Dir und mir.

Mit den Borkenbildern, die aus abgekratzter Farbmasse von alten Leinwänden oder ungültigen Bildern entstanden, um neue materiestarke Werke (Reliefs) zu konzipieren, schlich sich eine gewisse serielle Ordnung ein. Gelegentlich wurden auch Papierschnipsel integriert: Alles kommt aus 3444 (1958) zeigt diese Entwicklung besonders deutlich.

Die frühen 60er Jahre gehören zu einer Phase, in der skripturale Bilder entstehen (Buchstäblich verschlossen, 1962). Buchstaben, Silben, Worte - das Thema Schrift und Bild ist zugleich internationales Kunstgespräch - finden Eingang in Hoehmes Farbwelt. Der Künstler verbringt ein Stipendienjahr (1960) in der Villa Massimo in Rom und lernt eine andere, die südländische Lebensweise kennen, die ihn immer weiter öffnet. In diesem römischen Jahr der Basisarbeit werden die 60er Jahre gleichsam vorbereitet.

Ab 1964 entstehen verstärkt Raumobjekte, die neben dem klassischen Leinwandgrund auch Holz, Gaze, Nylonschnüre und ähnliches integrieren - Hoehme ist endgültig im Raum. Die Schnittmusterbögen von 1964/66 sind genial gestaltete künstlerische Fahrpläne, die jedwede praktische Seite aussparen - mit den Bögen ließe sich nie ein Kleid herstellen; dies ist eine andere Seite der Kunst.

Die Raumobjekte, die nach 1965 entstehen, zeigen, daß der Künstler intensiv Grundlagenforschung betrieben hat. Er führt Plexiglas-Farbdöschen und Polyäthylenschnüre aus dem Bild heraus in den Ausstellungsraum hinein, die totale Offenheit nach allen Seiten wird zum Programm. 1968 veröffentlichte er das für seine Malerei gültige Manifest "Relationen", das ebenso für moderne abstrakte Kunst überhaupt Gültigkeit hat. Ein Auszug:


So sind "nicht-abbildende Bilder" Übersetzungen
von visuellen Lebenserfahrungen, in denen
Erinnern, Sich-etwas-Vorstellen,
Zusammenfügen und Abschätzen
eine Rolle spielen (...)

Bilder sind vielschichtige visuelle
Gleichungen mit Faktoren / Vektoren /
Tensoren / Sensoren
- die Farben darin sind Stellenwerte /
Signale / Beziehungen / Energien /
Zeitmomente

Bilder sind eine Lebenshilfe,
man soll sich ihrer bedienen zur
Erkenntnis über sich selbst,
denn die Bilder sind nicht auf der Leinwand,
sondern im Menschen

(Dieser Text wurde veröffentlicht in: Tayfun Belgin (Hrsg.): Kunst des Informel. Malerei und Skulptur nach 1952. Ausstellungskatalog Museum am Ostwall Dortmund / Kunsthalle in Emden / Neue Galerie der Stadt Linz, Wienand Verlag 1997, Seite 116-117)